Feldenkraisforum Ausgabe 102
Berührung und Bewegung: Darauf fokussiert sich die neueste Ausgabe unserer Verbandszeitschrift (auch für Nichtmitglieder in unserem Shop erhältlich). Beide Begriffe werden in Anne Barthelmeß‘ Beitrag zum Thema Palliativversorgung im wörtlichen und emotionalen Sinne relevant. Ganz grundsätzlich widmet sich Christina Schneider dem Menschen in seiner Bewegung. Claus Bühler rundet den aktuellen Themenschwerpunkt mit einem Erfahrungsbericht über seine „geliebte Liege“ ganz praxisbezogen ab.
Darüber hinaus im aktuellen Heft: „Tanzen auf den Sitzhöckern“, eine Rezension von Victoria Worsleys Buch „Feldenkrais for Actors“. Zudem Teil 5 der Serie „Eine Feldenkrais-Theorie in pragmatischer Absicht“.
Lesen Sie hier das Feldenkraisforum-Editorial:
Berührt und bewegt!
Über die Macht von Berührung und Bewegung
„Berührung ist nur eine Randerscheinung“, so hieß mal ein Band mit neuer Literatur aus den letzten Jahren der DDR und so recht der Titel im wörtlichen Sinne hat, so wissen wir als Feldenkrais Practitioner um das Gegenteil: Berührung berührt zutiefst und wird oft als unterstützend, gar schützend empfunden. Sie verletzt, wenn sie ungewollt geschieht, einen Übergriff darstellt oder sogar in brutale Gewalt mündet.
Über die Ambivalenz aller Handlungen hat im Zusammenhang von Aktionsmacht und Gewalt der Soziologie Heinrich Popitz nachgedacht, er prägte die Begriffe, dass jeder Mensch – auch aufgrund seiner Körperlichkeit – verletzungsoffen sei, aber genauso eben, wenn auch ungleich verteilt, verletzungsmächtig. [Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Tübingen, zweite, stark erweit. Aufl., 1992, z. B. S. 24 f., 44, 68 f.]
Verletzungsmächtigkeit, Verletzungsoffenheit bestimmen wesentlich mit, was wir in einem fundamentalen Sinne „Vergesellschaftung“ nennen. Die Sorge, Furcht, Angst voreinander ist als ein Modus des Vergesellschaftet-Seins niemals ganz wegzudenken. Zusammenleben heißt stets auch sich fürchten und sich schützen. (Popitz, S. 44)
In welchem gesellschaftlichen Umfeld bewegen wir uns derzeit eigentlich? Unterrichten wir Feldenkrais im sozialen Brennpunkt oder auf dem saturierten Land, im reichen Stadtviertel oder in der personalarmen ‚Seniorenresidenz’? Wer kann sich unsere Arbeit leisten, auch wenn wir nicht teuer sind?
Seltsame Nacht-Gedanken zu einem Heft über das Berühren und Berührt-Sein, über das körperliche wie emotionale Bewegt-Sein sowie die geistige Beweglichkeit im lebenslangen Lernen (wie es Roger Russell im fünften Teil seiner Serie beschreibt). Auslöser meiner Fragen sind vielleicht auch die wohl notwendige Überarbeitung der Ethischen Richtlinien des FVD und die Schaffung der Stelle einer Präventionsbeauftragten.
Unsere Schwerpunkt-AutorInnen haben sich auf sehr unterschiedliche Weise mit den positiven Aspekten von Berührung und Bewegung befasst, dabei setzt Anne Barthelmeß’ Artikel über Feldenkrais in der Arbeit mit Todkranken den Ton:
Es geht darum, unser Selbstbild zu erweitern, uns zu erfahren und herauszufinden, wer wir eigentlich sind und wie wir Dinge tun und dann darum, wie wir sie tun könnten, dass es angenehmer und leichter für uns wird, auch Loslassen und Gehen.
David Jekers Auseinandersetzung mit Victoria Worsleys Buch über Feldenkrais for Actors ruft mir die acht Original-Lektionen für SchauspielerInnen in Erinnerung, die Feldenkrais 1973 in Paris für Peter Brooks Truppe unterrichtete, also für SchauspielerInnen, die sich oftmals vehement mit monströser Gewalt anhand genialer Shakespeare-Dramen auseinandersetzten.
Ich wünsche Ihnen und Euch eine bereichernde Lektüre.
Ihre / Eure
Cornelia Berens