Die Feldenkrais-Bewegung als Vorreiter einer neuen Beziehungskultur

Professor Gerald Hüther

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Weil sich die ersten neuronalen Netzwerke anhand der aus dem eigenen Körper im Gehirn eintreffenden Erregungs- und Rückmeldungsmuster strukturieren, kommen alle Kinder mit einem Gehirn zur Welt, das in optimaler Weise auf die ganzheitliche Regulation der in ihrem Körper ablaufenden Prozesse vorbereitet und dafür optimal geeignet ist. Das Gehirn „weiß“ also, wie es mit dem Körper „zusammenarbeiten“, wie es körperliche Prozesse regulieren muss, um Wachstum und Weiterentwicklung zu ermöglichen. Diese innere Referenz wird im Lauf des späteren Lebens genutzt, um Störungen eben dieser körperlichen Beziehungsmuster zu identifizieren, und - wenn sie nicht unterdrückt werden - in Form von Schmerzen zu signalisieren.

Im Verlauf seiner Kindheit und Jugend lernt jeder Mensch aber auch, wie er sich verhalten sollte, wie er also seinen Körper steuern müsste, um seine beiden Grundbedürfnisse nach Nähe und Verbundenheit einerseits und nach Wachstum, autonomer Entwicklung und Freiheit andererseits zumindest notdürftig zu stillen. Was dazu notwendig ist, und welche Erfahrungen der oder die Betreffende dabei macht, hängt von der jeweiligen sozialen Welt und der dort entwickelten Beziehungskultur ab, mit all ihren tradierten Vorstellungen, Werten und Normen und den jeweiligen Haltungen und inneren Einstellungen maßgeblicher, d. h. für das eigene Überleben bedeutsamer Bezugspersonen. Auch diese sozialen Beziehungserfahrungen werden in Form neuronaler Beziehungsmuster im Gehirn verankert.

In einem eigenen, aktiven Prozess versucht jedes Kind und jeder Heranwachsende, die für die somatische Integration verantwortlichen Netzwerke mit den für die ebenfalls notwendige soziale Integration erforderlichen Denk- Fühl- und Verhaltensmustern in Einklang zu bringen. In der Regel werden dabei die für die somatische Regulation zuständigen Netzwerke innerhalb des jeweiligen übergeordneten, sozialen Bedeutungsrahmens genau so weiter entwickelt, angepasst und ausdifferenziert, wie es dieser sozialen Kontext erforderlich macht.

Moshé Feldenkrais hat diesen Prozess der Herausformung von erlernten und gewohnheitsmäßig beibehaltenen Mustern auf der Ebene körperlicher Regulationsmechanismen als eine unbewusste, durch Abhängigkeit von bedeutsamen Bezugspersonen entstandene, aber selbstständig von den betreffenden Personen vollzogene Anpassungsleistung verstanden. Ihm war klar, dass diese Musterbildung die weitere Entfaltung der in einer Person angelegten Potenziale verhindert und deshalb langfristig wie eine Lernblockade wirkt. Und er hat nachgewiesen, dass derartige maladaptive Anpassungsleistungen in Form früh gebahnter Bewegungs-, Denk- und Handlungsmuster auflösbar sind, und zwar durch die Wiederentdeckung der eigenen Möglichkeiten auf der Ebene der körperlichen Regulation, insbesondere der eigenen Bewegungsregulation.

Und er hat auch erkannt, dass die Begeisterung über das Wiederfinden ursprünglich vorhandener, aber im Zuge der Anpassung verdrängter oder unterdrückter Bewegungsmuster die Fähigkeit zu selbstorganisiertem Lernen wiederherstellt und damit neue Perspektiven für die Entfaltung eigener Potenziale eröffnet werden.

Kein anderer Therapeut oder Pädagoge hat das im vorigen Jahrhundert bis zur Perfektion entwickelte und bis heute noch immer vorherrschende Dressur- und Abrichtungslernen unter Ausnutzung von Abhängigkeiten und deren Verstärkung durch Bestrafung bzw. Belohnung so deutlich als entwicklungshemmend bloßgestellt wie Moshé Feldenkrais, und kein anderer hat die Wiederentdeckung der eigenen Möglichkeiten als entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit des Menschen gesehen, zeitlebens ein Lernender zu bleiben und dabei immer weiter über sich hinauszuwachsen. Und nicht zuletzt zählt Moshé Feldenkrais zu denen, die bereits im letzten Jahrhundert davon überzeugt waren, dass die bis heute noch immer weitverbreiteten deterministischen Vorstellungen von der Natur des Menschen lediglich dazu dienen, den Menschen die Verantwortung für ihre eigene Entwicklung abzunehmen und sie an der Entfaltung ihrer Potenziale zu hindern.

Die von Moshé Feldenkrais entwickelten Vorstellungen und Verfahren sind deshalb hochwirksam und effizient, wenn es um das Verlassen von eingefahrenen Handlungs- und Denkmustern geht, weil sie das Wiederfinden eigener, z.T. lange verschütteter Möglichkeiten ermöglichen. Auf diese Weise reaktivieren sie die eigene Begeisterung am Entdecken und Gestalten. Menschen, die solche Erfahrungen machen durften, fühlen sich nicht nur wieder neu mit sich selbst verbunden. Sie gewinnen auch ihre Zuversicht und ihr Selbstvertrauen zurück, und all das ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen einander ohne Angst und ohne Vorurteile begegnen, dass sie einander einladen, ermutigen und inspirieren können, sich selbst und ihre Möglichkeiten noch einmal neu zu erkunden, um gemeinsam über sich hinauszuwachsen.

Es ist bemerkenswert, wie gut die von Moshé Feldenkrais entwickelten Denkansätze und praktischen Verfahren mit den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung im Einklang stehen und auf diese Weise naturwissenschaftlich begründbar werden.

Unverständlich bleibt dem Außenstehenden allerdings, weshalb es bis heute noch immer nicht zur Herausbildung einer sich global ausbreitenden Feldenkrais-Bewegung gekommen ist. Einer Bewegung, die sich als Anstifter und Vorreiter einer neuen Beziehungskultur versteht. Einer Beziehungskultur, die das tiefe Grundbedürfnis aller Menschen nach Verbundenheit und Freiheit endlich zu stillen vermag. Eine solche Feldenkrais-Bewegung könnte besonders gut funktionalisierten und sich selbst entfremdeten modernen Menschen helfen, das endlich wiederzufinden, was sie im Lauf ihrer Sozialisation in einer immer liebloser werdenden Welt verloren haben: die liebevolle Beziehung zu sich selbst. Sie wäre die Voraussetzung für die Entwicklung einer stärkenden, mutmachenden und inspirierenden Beziehung zu anderen Menschen. Die Feldenkrais-Bewegung als Bahnbrecher für eine solche neue Beziehungskultur – über eine solche Entwicklung hätte sich Moshé sicher gefreut.

Dieser Text entstammt der Eröffnungsrede von Deutschlands führendem Neurobiologen Professor Gerald Hüther auf der Jubiläums-Jahrestagung des Feldenkrais-Verband Deutschland 2011. Professor Gerald Hüther leitete bis 2016 als Neurobiologe und Hirnforscher die Zentralstelle für Präventionsforschung an der Universität Göttingen und Heidelberg/Mannheim und hat zahlreiche Bücher verfasst.